Zellen ausser Kontrolle - wenn Schutzmechanismen kippen

Im letzten Teil dieser Reihe hast du gesehen, wie tief im Inneren unserer Zellen erste Schäden entstehen – an der DNA, in den Epigenetik-Steuerungen oder durch fehlgeleitete Proteinprozesse. Diese primären Veränderungen bringen das Gleichgewicht der Zelle ins Wanken. Doch oft bleibt es nicht bei den Ursprüngen – es entstehen Folgeprozesse, bei denen die Zellen versuchen, das Steuer noch irgendwie herumzureißen.
Manchmal gelingt das. Aber oft überreagiert der Körper, oder er reguliert sich selbst aus dem Takt. Und genau hier beginnt die Phase, in der Zellen außer Kontrolle geraten.
Diese sogenannten antagonistischen Merkmale sind ursprünglich Schutzmechanismen – wie das Drosseln der Zellteilung bei Gefahr oder die Veränderung des Energiestoffwechsels (Mitochondrien), um Ressourcen zu schonen. Doch wenn diese Reaktionen dauerhaft oder übersteuert ablaufen, wird aus Schutz Schaden. Die Zellen hören auf zu funktionieren, fangen an, Signale zu stören oder begünstigen sogar Krankheiten.
Wichtig: Diese Prozesse können zwar durch die primären Schäden ausgelöst werden, aber sie entstehen nicht zwangsläufig daraus. Auch ohne vorherige DNA-Schäden oder Telomerverkürzung kann es durch Umweltfaktoren, Lebensstil oder Stoffwechselentgleisungen direkt zu solchen Fehlregulationen kommen.
Im nächsten Abschnitt schauen wir uns genau an, wie diese Kontrollverluste ablaufen – und wie du verhindern kannst, dass dein Körper dabei die falschen Prioritäten setzt.
Zelluläre Seneszenz – wenn Zellen nicht sterben, aber auch nicht leben
Nicht jede beschädigte Zelle stirbt. Manchmal bleibt sie einfach stehen – hört auf sich zu teilen, stellt bestimmte Funktionen ein, aber bleibt weiter im Gewebe vorhanden. Dieser Zustand heißt zelluläre Seneszenz. Man kann sich diese Zellen wie alte Maschinen vorstellen, die noch an Ort und Stelle stehen, aber nichts mehr leisten – und manchmal sogar stören und Probleme verursachen.
Ursprünglich ist Seneszenz eine Schutzmaßnahme. Wenn eine Zelle merkt, dass sie beschädigt ist, blockiert sie ihre eigene Teilung, um keine fehlerhaften Kopien zu erzeugen. Besonders bei DNA-Schäden, Telomerverkürzung oder epigenetischen Fehlern ist das eine sinnvolle Reaktion – sie kann Krebs verhindern. Doch das Problem ist: Viele dieser Zellen werden nicht abgebaut, sondern sammeln sich im Gewebe an.
Genau hier entsteht der Zusammenhang zur Autophagie. Denn eigentlich sollte der Körper in der Lage sein, diese funktionslosen Zellen zu erkennen und zu entsorgen – über Reparaturmechanismen oder durch kontrollierten Zelltod. Doch wenn die Autophagie schwächer wird, wie es mit dem Alter häufig passiert, bleiben diese seneszenten Zellen einfach liegen.
Das wäre vielleicht noch zu verkraften, wenn sie still wären. Doch seneszente Zellen sind keineswegs ruhig. Sie schütten entzündungsfördernde Botenstoffe, Wachstumsfaktoren und Enzyme aus, die umliegende gesunde Zellen schädigen können. Dieser sogenannte SASP – das seneszente assoziierte sekretorische Phänomen – wirkt wie ein permanenter Störsender im Gewebe. Er fördert chronische Entzündungen (siehe nächstes Unterkapitel zu Vom Zellchaos zur Systemkrise), beschleunigt Alterung und steht in Verbindung mit Krankheiten wie Arteriosklerose, Osteoporose oder Alzheimer.
Mit zunehmendem Alter steigt die Zahl dieser Zellen deutlich an – und damit auch ihre negativen Effekte. Besonders betroffen sind Gewebe mit hoher Zellumsatzrate, wie die Haut, das Immunsystem oder die Gefäßinnenwände.
Die gute Nachricht: Es gibt Wege, wie man diese Zellen gezielt beeinflussen oder sogar entfernen kann – und viele dieser Ansätze wirken direkt über die bereits besprochenen Prozesse wie Autophagie, Sirtuine oder Senolytika - Moleküle, Medikamente oder Pflanzenstoffe, wie Fisetin (in Erdbeeren) oder Quercetin (in Zwiebeln) die seneszente Zellen direkt abbauen können. Auch hier wirst du im Praxisteil sehen, wie du deinem Körper ganzheitlich helfen kannst, diese Zellen wieder loszuwerden – oder ihre Entstehung zu verhindern.
Deregulierte Nährstofferkennung – wenn der Körper ständig auf „Vollgas“ läuft
Jede Zelle im Körper muss ständig entscheiden: Energie speichern oder Energie verbrennen? Wachstum oder Erholung? Zellteilung oder Reparatur? Damit das funktioniert, hat der Körper ein komplexes System zur Erkennung von Nährstoffen – also Sensoren, die permanent messen, wie viel Energie verfügbar ist. Je nachdem, wie diese Sensoren aktiviert sind, werden unterschiedliche Stoffwechselprogramme gestartet.
Die vier bekanntesten dieser Sensorwege heißen Insulin/IGF-1, mTOR, AMPK und Sirtuine (siehe oben unter Epigenetik). Sie reagieren auf Zucker, Aminosäuren, Energielevel und zellulären Stress. Im jungen, gesunden Organismus sind diese Systeme fein aufeinander abgestimmt. Doch mit zunehmendem Alter – oder durch chronische Fehlernährung und Bewegungsmangel – kommt es zu einer dauerhaften Überreizung bestimmter Signalwege.
Besonders betroffen ist mTOR, ein Wachstumsfaktor, der in Zeiten hoher Energiezufuhr auf „anabolen Betrieb“ schaltet. Bodybuilder lieben übrigens diesen Pfad, denn er bedeutet Wachstum und kann vor allem durch hohen Proteinkonsum aktiviert werden. Das heißt: Zellen wachsen, teilen sich, bauen auf. Klingt erstmal gut – ist es aber nicht dauerhaft. Denn wenn mTOR ständig aktiv ist, bleibt keine Energie für Reparaturprozesse übrig. Die Autophagie wird unterdrückt, Zellen altern schneller, und die Entstehung von Krankheiten wie Krebs oder Diabetes wird begünstigt.
Gleichzeitig ist bei vielen Menschen auch das Insulin/IGF-1-Signal chronisch erhöht – durch ständig verfügbare Kohlenhydrate, Snacks, hohe Eiweißmengen und Stress. Das sorgt für dauerhaft hohe Wachstumssignale, eine verminderte Insulinempfindlichkeit und eine beschleunigte Alterung auf zellulärer Ebene.
Was dabei oft zu kurz kommt: Nicht nur Überfluss ist ein Problem – auch der Mangel an Phasen der Ruhe. Denn genau in diesen Ruhephasen – etwa beim Fasten, bei Bewegung oder kalorienarmen Intervallen – werden Gegenspieler wie AMPK und Sirtuine aktiviert. Sie fördern Zellreinigung, Reparatur und Anpassung. Ein natürlicher Wechsel zwischen „Aufbau“ und „Abbau“ ist also essenziell. Wichtig ist dabei auch: Nicht nur zu viel, sondern auch zu wenig mTOR-Aktivität kann problematisch sein. Denn mTOR spielt eine entscheidende Rolle beim Erhalt von Muskelmasse, beim Zellaufbau und bei der Immunfunktion. Wie so oft im Körper gilt auch hier: Es kommt auf die richtige Balance an. Weder Dauerstress durch Überfluss noch völlige Unterdrückung führen zu einem gesunden Altern. Entscheidend ist der Wechsel zwischen Aktivierung und Entlastung – zwischen Aufbau und Erneuerung.
Im Alter jedoch ist dieser Rhythmus oft verloren gegangen. Der Körper bleibt im Wachstumsmodus hängen – wie ein Motor, der dauerhaft im roten Drehzahlbereich läuft. Und genau das ist eines der Kernprobleme: Der Stoffwechsel hat verlernt, wann es Zeit ist für Erholung und Erneuerung.
Die gute Nachricht: Diese Systeme lassen sich neu kalibrieren. Und wie du bald sehen wirst, reichen oft schon kleine Veränderungen im Alltag, um diesen alten biologischen Schalter wieder zurück auf Balance zu stellen.
Mitochondriale Dysfunktion – wenn die Kraftwerke der Zelle schwächeln
Mitochondrien sind winzige Organellen in unseren Zellen, die man oft als Kraftwerke bezeichnet. Ihre Aufgabe: aus Nährstoffen Energie in Form von ATP produzieren – der universellen Währung des Lebens. Ohne Mitochondrien läuft im Körper nichts. Sie liefern Energie für Muskelkontraktion, Gehirnleistung, Zellreparatur, Immunfunktion und Stoffwechselprozesse.
Im jungen, gesunden Organismus arbeiten die Mitochondrien effizient und flexibel. Doch mit zunehmendem Alter, chronischem Stress oder falscher Lebensweise geraten sie aus dem Gleichgewicht. Die Energieproduktion wird ineffizienter, es entstehen mehr freie Radikale, die Mitochondrien selbst und auch umliegende Zellstrukturen schädigen. Man spricht von mitochondrialer Dysfunktion.
Das ist ein Teufelskreis: Wenn Mitochondrien geschädigt sind, produzieren sie weniger Energie, gleichzeitig aber mehr schädliche Nebenprodukte. Die Zelle hat dann nicht nur zu wenig Power, sondern auch ein steigendes Maß an oxidativem Stress. Besonders betroffen sind Zellen mit hohem Energiebedarf – wie Gehirnzellen, Herzmuskel, Leber oder Skelettmuskulatur. Typische Alterserscheinungen wie Erschöpfung, Muskelabbau, Konzentrationsprobleme oder verlangsamte Regeneration lassen sich oft auf geschwächte Mitochondrien zurückführen. Und nicht nur das. Mittlerweile weiß man, dass eine mitochondriale Dysfunktion mit sämtlichen chronischen Erkrankung, wie Krebs, kardiovaskuläre Erkrankungen, Fettleibigkeit, Insulinresistenz, Diabetes und Alzheimers einhergeht.
Normalerweise sorgt die Autophagie dafür, dass beschädigte Mitochondrien erkannt und recycelt werden. Dieser Prozess, auch Mitophagie genannt, funktioniert im Alter allerdings zunehmend schlechter. Defekte Mitochondrien bleiben in der Zelle, senden Stresssignale aus und tragen zur chronischen Entzündungsbelastung bei.
Spannend ist, dass Mitochondrien nicht nur Energie liefern, sondern auch Signale senden, die den gesamten Zellstoffwechsel beeinflussen. Sie kommunizieren mit dem Zellkern, regulieren den programmierten Zelltod und beeinflussen sogar epigenetische Prozesse. Sind sie gestört, wird die gesamte zelluläre Organisation anfällig.
Die gute Nachricht: Mitochondrien reagieren sensibel auf äußere Reize. Bewegung, gezielter Sauerstoffmangel (wie beim Intervalltraining), Kälte, Hitze und Fastenreize können ihre Biogenese fördern – also die Neubildung und Verjüngung von Mitochondrien. Auch hier gilt: Es ist möglich, gegen den Abbau zu steuern. Viel mehr dazu erfährst noch in späteren Kapiteln, denn die Unterstützung der Mitochondrien spielt für uns eine zentrale Rolle.
Fazit
Antagonistische Merkmale sind ein zweischneidiges Schwert – Schutzmechanismen, die uns kurzfristig vor Schaden bewahren, langfristig aber selbst zu Treibern des Alterns werden können. Zelluläre Seneszenz, dauerhafte Wachstumssignale und schwächelnde Mitochondrien zeigen, wie leicht das Gleichgewicht kippt.
Das Gute: Du bist diesen Prozessen nicht ausgeliefert. Mit gezielten Reizen, dem richtigen Rhythmus aus Belastung und Erholung und einem bewussten Lebensstil kannst du deinen Zellen helfen, die Balance zu halten. Im nächsten Teil schauen wir, wie aus diesen Fehlregulationen eine ausgewachsene Systemkrise wird – und was du tun kannst, um den ganzen Organismus wieder in Harmonie zu bringen.
Dein Seabstian
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